Eine Soziokratie ist ein Modell für die systematische Organisation produktiver Wissensarbeit. Strukturen dezentraler Entscheidungsfindung stärken Mitgestaltung und Mitverantwortung. Soziokratien delegieren Macht und Verantwortlichkeit von oben nach unten und von unten nach oben1bzw. von innen nach aussen und von aussen nach innen. Die Soziokratie schafft damit die Voraussetzungen für intelligente Organisationen, die bestehendes Können rasch auf neue Herausforderungen übertragen und dadurch ihre Agilität laufend erweitern.
Sozio|kratie
Der Begriff «Soziokratie» wurde Mitte des 19. Jahrhunderts erstmals geprägt. Er setzt sich zusammen aus dem lateininschen «socius» (Gefährt:in, Mitglied, Verbündete:r) und der griechischen Endung «-kratie», die eine Herrschaft oder Machtquelle kennzeichnet, wie etwa auch die Demokratie (Herrschaft des Volkes), die Bürokratie (Herrschaft der Verwaltung) oder die Theokratie (Herrschaft eines Gottes).
Eine Soziokratie ist somit eine Form der Regierung durch Gefährten oder Herrschaft der (sozialen) Gruppe. Anders gesagt: Wer macht, entscheidet. Wer gemeinsam umsetzt, entscheidet, wie. Oder: Das Team gibt sich seine Regeln selbst.
Zugang zur kollektiven Intelligenz
An der Kaffeemaschine, in der Zigarettenpause, beim Mittagessen: Wie oft diskutieren Arbeitskolleg:innen überall auf der Welt die (vermeintlichen) Fehlentscheidungen ihrer Vorgesetzten, die verpassten Möglichkeiten, die Ungerechtigkeiten und Ungereimtheiten in ihrem Umfeld? Meist bleiben diese Analysen ohne jede Konsequenz – und das ist doppelt bedauerlich: Zum einen bergen die Überlegungen der Fachleute ohne jeden Zweifel nicht selten wertvolle Einsichten, die mitunter echte Verbesserung ermöglichen würden. Zum anderen schwächt die erlebte Machtlosigkeit das Gefühl der Mitverantwortung und damit das Engagement für die gemeinsame Sache.
Soziokratien schaffen daher Strukturen und Prozesse für die gleichberechtigte Mitwirkung aller Kolleg:innen. Dadurch fliesen ihr Wissen, ihr Können und ihre Erfahrung laufend und strukturiert in die Zusammenarbeit ein. Strukturiert bedeutet unter anderem, dass nicht alle überall mitreden, sondern das Gegenteil: diejenigen, die in ihrer gemeinsamen Tätigkeit mit einer Frage konfrontiert sind, entscheiden über die Reaktion darauf. Strukturiert bedeutet ausserdem, dass nicht jeder Gedanke ungeprüft übernommen, sondern durch die betreffenden Fachleute systematisch geprüft und in das Ganze integriert wird.
Die Organisation schafft dadurch nicht nur ein wertschätzendes Arbeitsumfeld, in dem Mitarbeiter:innen wirksam werden und Sinn in ihrer Arbeit finden; sie gewinnt gleichzeitig Zugang zum kollektiven Situationsverständnis und den gemeinsamen Handlungsmöglichkeiten als Grundlage echter organisatorischer Agilität.
Wer macht, entscheidet
Diese soziale Gruppe, oder das Team, wird in einer Soziokratie als «Kreis» bezeichnet. Ein Kreis ist somit eine Gruppe von Menschen, die einen gemeinsamen Zweck oder Auftrag eigenständig verfolgen: ein Team mit einem hohen Grad an Autonomie.
Soziokratische Organisationen gliedern die Entscheidungsgewalt in einer Struktur vernetzter Kreise. Jeder Kreis repräsentiert dabei einen Kontext, auch als Domäne bezeichnet. Die Organisation formuliert die Erwartungen und gewährt die Vorrechte, innerhalb derer die Selbstorganisation des Kreises sich entfaltet.
Gleichberechtigte Mitwirkung
Eine Soziokratie etabliert Mechanismen, um eine gleichberechtigte Mitwirkung aller Beteiligten durchzusetzen. Dadurch soll das überzeugende Argument als Entscheidungsgrundlage zum Tragen kommen. Diese Grundlage einer von Vernunft geleiteten Zusammenarbeit ist ein Wesensmerkmal der Soziokratie, das sie von Demokratien, Autokratien und anderen verbreiteten Systemen abgrenzt.
Die Suche nach dem überzeugenden Argument bleibt dabei eine kollektive Aufgabe. Und nicht immer werden gute Argumente rhetorisch brillant oder charismatisch überzeugend vorgetragen. Eine Soziokratie etabliert deshalb wirksame Mechanismen der Mitwirkung und Zusammenarbeit, um die unvoreingenommene Prüfung der relevanten Informationen durch die Gruppe systematisch sicherzustellen.
Häufiger als nicht ist das überzeugende Argument rational nur unvollständig erfassbar. Denn wären die Fakten sonnenklar, würde jede Debatte sich erübrigen. Gerade deshalb ist die umfassende Perspektive der Beteiligten so vorteilhaft.
Systematisch und gerecht
Wissensarbeiter:innen haben sich auf ihren Pfaden durch Schule, Lehre, Studium und Weiterbildungen zu Fachleuten ihrer Aufgabengebiete ausgebildet. Sie bringen vielfältige Erfahrung mit und haben Motivation bewiesen. Organisationen selektieren sie sorgfältig für ihre Tätigkeiten. Es ergibt daher keinen Sinn, ihre Arbeit durch Anweisung und Kontrolle zu steuern.
Nur: Wie wird man dieser Erkenntnis in der praktischen Gestaltung der Zusammenarbeit gerecht?
Denn in einer Hierarchie kommt die Macht von «oben» und jede Beteiligung von «unten» wird einzig durch die Autorisierung von oben möglich. Form, Umfang und Verbindlichkeit der Mitwirkung bleibt unweigerlich der Güte und den Launen der Vorgesetzten unterworfen.
Soziokratien verankern deshalb systematisch die notwendigen Mechanismen, die geregelte Zusammenarbeit sicherstellen. Weil alle Beteiligten jederzeit notwendige Anpassungen an den Regeln und Abläufen erwirken können, droht dadurch keine Starre – im Gegenteil: Klare Vereinbarungen schaffen die sichere Grundlage für freie Entfaltung in der Zusammenarbeit.
Produktivität in der Wissensarbeit
Produktivität resultiert aus Motivation. Was Menschen motiviert, wurde vielfach untersucht. Ein universelles Fazit lautet: Äussere Motivatoren wie Boni oder Statussymbole zeigen insgesamt eine gegenteilige Wirkung2Positive wie negative Anreize lenken den Fokus vom eigentlichen Zweck der Tätigkeit ab. Wer eine Strafe angedroht bekommt, versucht, sie um jeden Preis zu vermeiden; eine versprochene Belohnung will gesichert werden – selbst wenn dabei die Firma zugrunde gehen sollte.. Wie aber fördern Organisationen die innere Motivation ihrer Mitglieder?
Nach der Selbstbestimmungstheorie sind Kompetenz, Autonomie und Eingebundenheit die massgeblichen Faktoren, die auf unsere Motivation einwirken. Kompetenz als die Möglichkeit, massgeblich zum Gelingen von etwas Bedeutendem beizutragen; Autonomie als eine Freiheit, sich willentlich einzubringen; und Eingebundenheit als Austausch aktiver Beteiligung in einer Gruppe. Was bedeutet das für die Produktivität in der Wissensarbeit?
Während das konventionelle Management mit wachsender Offensichtlichkeit darin versagt, schaffen Soziokratien systematisch die Strukturen, in denen ihre Mitglieder wirksam werden können. Die soziokratischen Grundelemente – Konsent-Entscheidung und Kreisstruktur – ebenso wie eine Vielzahl an Struktur- und Handlungsmustern stärken direkt die Kompetenz, Autonomie und Eingebundenheit. Dadurch wird die Soziokratie zur prototypischen Organisation für die produktive Wissensarbeit im 21. Jahrhundert.
Soziokratische Methoden und ihre Werkzeuge
Oft wird die Soziokratie mit der Soziokratischen Kreisorganisationsmethode gleichgesetzt, die sie erstmals für eine Umsetzung in Unternehmen formalisierte. Wir fassen die Soziokratie als ein Modell auf, womit sie beispielsweise mit der Demokratie vergleichbar wird.
Die Form der Umsetzung einer Soziokratie kann sich dann an den unterschiedlichen Methoden und Werkzeugen orientieren, die sich auf die Soziokratie beziehen, insbesondere die Soziokratische Kreisorganisationsmethode, Holacracy und Sociocracy 3.0. Ihre Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Einsatzmöglichkeiten lassen sich aus ihrer geschichtlichen Entstehung herleiten, die hier demnächst ausgeführt wird.
Fussnoten
- 1bzw. von innen nach aussen und von aussen nach innen
- 2Positive wie negative Anreize lenken den Fokus vom eigentlichen Zweck der Tätigkeit ab. Wer eine Strafe angedroht bekommt, versucht, sie um jeden Preis zu vermeiden; eine versprochene Belohnung will gesichert werden – selbst wenn dabei die Firma zugrunde gehen sollte.