Tun ist wie Meinen – nur anstrengender

Wer Kultur verstehen will, muss Praktiken beobachten. Auch kluge Köpfe haben keinen Zugriff auf die Zukunft. Als Kollektiv haben wir jedoch immer Zugriff auf unsere Praktiken und die Art, wie wir auf Störungen und Chancen reagieren.

«Die weltweite Nachfrage nach Kraftfahrzeugen wird eine Million nicht überschreiten – allein schon aus Mangel an Chauffeuren.»
– Gottlieb Daimler, der sich leider 1901 irrte.

Die historischen Fehleinschätzungen dieser Art sind berühmt und amüsant. Sie geben uns, weil wir zurückblicken können, ein Gefühl des Besser-Wissens.

Kluge Köpfe konnten die Zukunft oft nicht voraussehen, -berechnen oder nur schon sich zusammenfantasieren. Dampfschiff, Passagierzüge, Auto, U-Boot, Flugzeug, Atom-Energie, Glühbirne, Computer, Internet, Smartphone: Keine dieser Entwicklungen zeichnete sich für alle Zeitgenossen gleich sichtbar als Innovation ab, auch wenn vieles davon nur wenige Jahre nach einer Fehlprognose technische und gesellschaftliche Wirklichkeit wurde.

Oder wie Hans Rusinek sagt: Die Zukunft ist ein leerer Raum; wer sagt, er könne sie voraussagen, lügt, selbst wenn er die Wahrheit sagt. Das Grundgefühl gegenüber der Zukunft ist am besten: Demut. Auch wenn gelegentlich eine Prognose zutrifft, ist es doch eher Zufall, ein Glückstreffer. Wer eine Finanzkrise und die Zeit ihres Eintretens vorausgesehen hat, gilt als Genie, ist aber doch eher ein Glückspilz.

Wer auch immer es gesagt hat: Das schönste Bonmot zu diesem Thema ist

Prognosen sind schwierig. Besonders, wenn sie die Zukunft betreffen.

Routinen, Praktik und Kultur

Unsere Gegenwart ist – mehr als uns lieb ist – von Routinen bestimmt, die wir im allgemeinen unreflektiert und unbewusst übernommen haben und immer wieder abspulen. Routinen sind Praktiken, die sogar als Kultur in einer Gruppe, Organisation, Gesellschaft verankert sein können, ohne dass sich jemals jemand dafür entschieden hätte: «Wir tun das so!» Wollen wir Kultur verstehen, müssen wir Praktiken beobachten. Das ist eine erprobte ethnologische Praktik: die teilnehmende Beobachtung während der Feldforschung.

Praktik meint eine spezifische Art der Handhabung, Ausübung oder Ausführung. Sie lässt sich einfach beobachten: Wer eröffnet ein Meeting? Wie? Wie werden Entscheidungen getroffen? Gibt es eine Pause? Woher wissen das die Leute? Die meisten dieser Praktiken sind wie zuvor erwähnt Routinen, die wir uns nie überlegen, bis sie nicht mehr zum Kontext passen, weil der sich inzwischen verändert hat. Oder bildhaft: Weil sich die Welt weitergedreht hat. In diesem Fall wird das Beibehalten der alten Routinen zur Zumutung.

Routinen in der Krise: Der Welt wird schwindlig

Die eingeübten Programme passen nicht mehr zur Umwelt, in Organisationen ebenso wie in Gesellschaften oder sogar der ganzen Welt.

Wenn in unserem Gehirn die Signale unserer Sinnessysteme nicht (mehr) zusammenpassen, wenn also kein konsistentes Abbild der Welt in unserem Kopf entsteht, dann meldet unser Hirn «Schwindel!». Unsere Welt und unser Körper darin gerät aus dem Gleichgewicht.

Auch als Organisation, Gesellschaft oder Demokratien sind wir von diesem Phänomen betroffen. Hans Rusinek bezeichnet das Resultat mannigfaltiger, gleichzeitiger Krisen und unseres Unvermögens, unser Verhalten zu ändern, deshalb als genau das: Schwindel.

Unsere kollektiven Bewegungs- und Handlungsmuster passen nicht mehr zum Kontext und unser gesamtes System gerät auf allen Ebenen spürbar aus dem Gleichgewicht.

Das Super-Problem

Die Problemlösungs-Strategie kann fundamental falsch sein, und das ist dann ein Super-Problem. Falsch bedeutet: Die Art der Strategie passt nicht zur Art des Problems.

Ein Beispiel:

Die Firma scheint nicht mehr so attraktiv für neue Mitarbeitende zu sein?

Sehen wir dies als empirisches Problem, werden wir mehr Geld in das Design der Stellenanzeigen investieren oder einfach mehr Stellenanzeigen schalten. Nehmen wir die unangenehme Herausforderung jedoch als konzeptionelles Problem an, werden wir unsere Praktiken überprüfen. Die Praktiken selbst, also die Kultur, «…wie wir die Dinge tun», wären dann der Ursprung des Problems. Dies zu unterscheiden ist fundamental wichtig, da wir sonst regredieren, also auf Wirklichkeitsverweigerung und Krisenabwehr schalten.

Auch diese Regression ist in Organisationen, Gesellschaften und Staaten beobachtbar:

Verhärtete Denkmuster führen zu Blindheit und Abwehr und damit zu kollektiven Lernblockaden.

Mit der Realität steuern

Wie gross wären die Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten einer Organisation, die die Realität so wahrnimmt und akzeptiert, wie sie tatsächlich ist? Oder, um es weniger absolut auszudrücken: Wie könnte eine Organisation die Wahrscheinlichkeit steigern, auf Signale aus der Realität möglichst passend zu reagieren? Also so, dass die Praktiken laufend der sich ändernden Wirklichkeit angepasst werden können?

Moderne Organisations- und Arbeitsformen wie Soziokratie kennen dafür eine einfache und grundlegende Praktik, die ich kurz erläutern möchte. Sie heisst bei Sociocracy 3.0 (S3) «Navigation nach Spannung». Dieses Muster könnte auch als «Reiz-Reaktionsschema der Organisation» bezeichnet werden.

Im Unterschied zum sofortigen und reflexartigen Zurückziehen der Hand von einer heissen Herdplatte ist dieses Muster verlangsamt, d.h. es hat eine eingebaute Pause zum Nachdenken zwischen dem Reiz und der Reaktion. Während dieser Pause haben wir die Gelegenheit, unsere Reaktion zu wählen. Wir können also dem reflexhaften, immer gleichen Handeln eine neue Art der Reaktion entgegensetzen und damit die gewohnten und unüberlegten Handlungsroutinen aufbrechen. So kann eine Organisation mithilfe einer absichtlichen Verlangsamung selbst ihre Praktik-Routinen verändern. Mir hilft die Idee einer Pausetaste im Kopf, die jeder Mensch absichtlich drücken kann. Während dieser Pausen-Zeit kann die Situation in die Klarheit des Bewusstseins und der Sprache gelangen und eine passende Reaktion kann gewählt werden.

Das Schema Wahrnehmen – Bewusstwerden – Bewerten – Reagieren ist ein grundlegendes Verhaltensmuster jedes intelligenten Systems, also auch einer selbstorganisierten Gruppe bis hin zur Grösse einer ganzen Organisation.

Mein Dank geht an Hans Rusinek: Danke für das Teilen deiner Gedanken, die ich dankbar aufgenommen und mit meinen eigenen vermischt habe.

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Hast du dazu Fragen? Schreibe uns deine Überlegungen und lass uns diesen Gedanken gemeinsam weiterspinnen!

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