Der Begriff der Komplexität1Umgangssprachlich wird komplex auch als Steigerung von kompliziert verwendet. Wir unterscheiden beides, um mit Forschung und Literatur übereinstimmend komplexe und komplizierte Kontexte unterscheiden zu können. Ein komplizierter Kontext ist demnach mit entsprechenden Kenntnissen verstehbar. Ein hoch komplizierter Kontext erfordert mehr Vorkenntnisse. beschreibt die Eigenschaft eines Systems, eines Kontexts oder einer Fragestellung, die in ihren Zusammenhängen nicht vollständig erfassbar oder beschreibbar sind. Beispiele dafür sind Menschengruppen, Lebewesen, Wirtschaftsräume, oder die Frage, was ich jetzt essen soll.
Komplexes System
Komplexität bezieht sich immer auf ein System von Einzelelementen, die miteinander und aufeinander wirken. Was also ist ein komplexes System?
Ein System ist ein Ganzes aus Einzelteilen, die miteinander interagieren. Die primäre Eigenschaft des Systems kann durch keins seiner Einzelteile erbracht werden und auch die Einzelteile bringen ausserhalb des Systems ihre Eigenschaft nicht zum Tragen. Das Ganze ist anders als seine Bestandteile.
Ein komplexes System zeichnet sich dadurch aus, dass einige Aspekte dieses Zusammenspiels seiner Einzelteile nicht vollständig verstanden werden können. Wir beeinflussen Ökosysteme, Wirtschaftssysteme oder soziale Netzwerke, und wir verstehen die Auswirkungen nur teilweise.
Insbesondere ist menschliches Verhalten in diesem Sinn komplex. Menschen reagieren vor dem Hintergrund ihrer Erfahrung und im Einfluss ihres Kontexts auf die vielfältigen Eindrücke ihrer Umgebung.
Menschliche Organisation
Wir bilden Organisationen, um Dinge zu erreichen, die individuell ausser Reichweite blieben. Diese Organisationen bestehen aus der Kommunikation ihrer Mitglieder, die dazu dient, den Zweck der Organisation zu erfüllen. Mit wachsender Zahl der Mitarbeiter:innen nehmen die Kommunikationsverbindungen exponentiell zu.
Die vielfache Vernetzung sich komplex verhaltender Menschen ergibt wiederum ein komplexes System. Wir können es modellieren und beeinflussen, aber nicht vollständig erfassen oder steuern.
Vernetzung
Die Komplexität eines Systems ergibt sich wesentlich aus der Vernetzung ihrer Bestandteile. Sie interagieren untereinander, sodass jede Veränderung sich in unplanbarer Weise auf seine unterschiedlichen Teile auswirken kann, wodurch das System als Ganzes sich verändert. Dadurch werden die Auswirkungen von Impulsen schwer vorhersagbar: Wird eine Nachricht sich verbreiten, wird ein Virus sich ausbreiten, wird der Markt das Produkt annehmen, wird das Ökosystem den Eingriff überstehen?
Rückkopplung
Wenn das komplexe System sich selbst wahrnimmt, können seine Ergebnisse in seine weitere Arbeit einfliessen. Diese Rückkopplung kann sich entweder verstärkend oder stabilisierend auswirken. Wenn dem Kaninchen auf der Insel keine Fressfeinde drohen, werden seine sieben Jungen ebenfalls je sieben Junge aufziehen können – pro Jahr. Kommt ein Fuchs ins Spiel, stabilisiert sich dieser Effekt. Die Fuchspopulation dehnt sich aus, soweit sie sich von Kaninchen ernähren kann. Dann geht sie zurück, worauf die Kaninchen wieder etwas Raum gewinnen und das System schwingt sich ein.
Der gleiche Mechanismus spielt in Wirtschafts-Systemen, Stichworte: Dotcom-Blase und Bank-Run. Er spielt in sozialen Systemen, als Trend, Hype oder einfaches Vorurteil – wenn alle es sagen, sagt es jetzt noch jemand mehr.
Und er wirkt insbesondere auch in der Steuerung von Organisationen, wo ein bewusster Umgang mit jeder Form von Feedback das organisatorische Lernen befeuern kann.
Dynamik
Die zeitliche Dimension erschwert den Umgang mit Komplexität zusätzlich. Viele komplexe Systeme verändern sich über die Zeit, indem sie auf äussere Einflüsse und die oben beschriebene Rückkopplung reagieren. Für die Einschätzung der Stabilität, Instabilität und Entwicklung eines Systems muss daher seine Dynamik über die Zeit in die Betrachtung einfliessen.
Emergenz
Diese kollektive Entwicklung führt dazu, dass die Eigenschaften eines komplexen Systems aus dem Zusammenspiel seiner Komponenten über die Zeit hervorgehen. Diese als «Emergenz» bezeichnete Eigenschaft bedeutet, dass jeder Eingriff in das System, etwa der Austausch eines seiner Einzelteile durch einen scheinbar gleichwertigen Ersatz, in unvorhersehbarer Weise auf das Ganze auswirken kann.
So verhalten Menschen sich intelligent in Bezug auf den Kontext, in dem sie sich befinden. Diese Kontexte erlangen durch ihr Zusammenspiel Eigenschaften, die sich aus den Charakterisierungen ihrer Mitglieder nicht ableiten lassen.
Analyse komplexer Systeme
Entscheidend für das Verständnis und die Untersuchung komplexer Systeme ist die Erkenntnis, dass ihr Wirken nur im Zusammenhang ihres Kontexts verstanden werden kann.
Um ein kompliziertes System zu verstehen, kann es – gedanklich oder tatsächlich – in seine Einzelteile zerlegt werden. Das Verständnis ihres Funktionierens summiert sich zum Verständnis des Ganzen.
Im Gegensatz dazu zoomt die Analyse eines komplexen Systems heraus auf den grösseren Kontext. Es lässt sich nur im Zusammenspiel mit seinem Umsystem verstehen, woraus sich Rückschlüsse auf seine eigene Entwicklung ziehen lassen. Warum hat die Echsenart ihr Farbkleid oder ihr Jagdverhalten geändert? Die Antwort liegt vermutlich im Ökosystem, in das sie gespült wurde.
Umgang mit Komplexität
Jeder praktische Umgang mit Komplexität muss dazu dienen, die Situation oder Fragestellung für den menschlichen Verstand handhabbar zu machen.
Oft erreichen wir dies durch eine gedankliche Vereinfachung. Wir ersetzen somit die überfordernde Darstellung durch eine andere, die wir gedanklich fassen können, eine Heuristik. Wenn wir uns im Supermarkt zwischen 200 Yoghurts nicht entscheiden können, klammern wir erst die Luxus- und die Billigpreis-Linien aus und entscheiden uns dann für das mit der schönsten Verpackung. Diese Komplexitätsreduktion ist oft notwendig, und sie ist riskant, weil die Betonung oder Missachtung einzelner Aspekte das Gesamtbild unweigerlich verzerrt. Das Ergebnis hängt davon ab, wie gut die Heuristik zur tatsächlichen Frage passt.
Komplexe Steuerung
Eine wirksame Möglichkeit zur Verbesserung liegt darin, die gedankliche Kapazität über den Verstand einer Einzelperson hinaus auszuweiten. Wenn es gelingt, unter Beteiligten ein gemeinsames Bild von der Situation zu erschaffen, kann auf der Grundlage des kollektiven Verstehens, Könnens und Erfahrens darauf zu reagieren.
W. Ross Ashby, einer der frühen Forscher auf diesem Gebiet, formulierte dazu das Ashbysche Gesetz der erforderlichen Varietät (oder Vielfalt, engl. Law of Requisite Variety). Es besagt, dass für einen effektiven Umgang mit Komplexität eine mindestens ebenbürtige Komplexität des Steuerungssystems notwendig ist. Ein treffendes Beispiel dafür ist ein selbstorganisierendes Team, das seine Arbeit ebenso bewusst steuert, wie es sie ausführt.
Fussnoten
- 1Umgangssprachlich wird komplex auch als Steigerung von kompliziert verwendet. Wir unterscheiden beides, um mit Forschung und Literatur übereinstimmend komplexe und komplizierte Kontexte unterscheiden zu können. Ein komplizierter Kontext ist demnach mit entsprechenden Kenntnissen verstehbar. Ein hoch komplizierter Kontext erfordert mehr Vorkenntnisse.